Tango, sagt Nacho de Paz, dazu Foxtrott und Charleston, also Gebrauchsmusik, Modetänze der zwanziger Jahre finde man in Kurt Weills Musik zur Dreigroschenoper. Aber auch Händel, Puccini, Mozart, die große Operntradition. Sogar Mahler. Die Partitur steckt voller Zitate, Anspielungen und Stilzitate aus E-Musik und Oper. Eine Musik, die so viele Klassen von Einflüssen miteinander verrühre und darin zu einer unbezweifelbaren Eigenständigkeit komme, das sei schon erstaunlich. Als nachschaffender Künstler, als Dirigent eines Dreigroschenopern-Ensembles von insgesamt 16 Musikern, sei man konfrontiert mit der Notwendigkeit allergrößter Präzision und zugleich Elastizität. Denn die Musik sei ja nicht nur umfassend polystilistisch gebaut und hinreißend intelligent komponiert, sie sei auch ein hochdramatisches Uhrwerk aus äußerst differenzierten Tonlagen und Tempi und damit zugleich immer auch Ausdrucks-Anleitung für die Schauspieler.
Nacho de Paz, 1974 in Spanien geboren, ist das, was man einen Nachwuchsdirigenten nennt. Seine internationale Erfahrung und sein Renommee sind im Wachsen begriffen, zu den herausragenden Ereignissen seiner bisherigen Karriere zählen etwa die spanische Erstaufführung von Luigi Nonos Prometeo 2003 in Madrid (mit André Richard und Arturo Tamayo), drei internationale Komponistenpreise sowie seine Professur für Analyse zeitgenössischer Musik in Aragón. Und zurzeit ist er Stipendiat der Ensemble Modern Akademie. Man sieht also, dass diese Akademie ihre Stipendiaten mit Bedacht wählt. Zusammen mit Dietmar Wiesner, der die Funktion des Tutors übernommen hat, erarbeitet Paz derzeit die Musik zur Dreigroschenoper im Schauspiel Frankfurt; im kleinen Orchester sitzen dabei Musiker des Ensemble Modern und andere Stipendiaten der Akademie.
Dietmar Wiesner, Flötist und Gründungsmitglied des Ensemble Modern, war dabei, als das Ensemble vor 13 Jahren am Schauspiel Frankfurt in der Dreigroschenoper spielte und als es vor acht Jahren die Dreigroschenoper-CD einspielte, eine Art Dreigroschen-Hörspiel mit Zwischentexten, das konzertant aufführar ist und, was das Klangbild anbelangt, heute vielfach als Referenzaufnahme gilt. Mit André Wilms, der in der aktuellen Frankfurter Produktion Regie führt, hat Wiesner schon mehrfach zusammen gearbeitet, zum Beispiel, indem er für dessen Produktionen Bühnenmusiken schrieb. Die Klangvorstellungen aber, die die neue Produktion bestimmen, seien die des aktuellen Dirigenten, sagt Dietmar Wiesner. Er sehe seine Rolle als die eines Vermittlers. Zwischen Klang und Szene etwa, aber auch zwischen der Inszenierungsarbeit und der Weill-Aufführungs-Tradition, für die das Ensemble Modern selbst steht.
Die Nina-Hagen-Frage
Die Geister scheiden sich zum Beispiel an Nina Hagen. Sie singt als Mrs Peachum auf der CD des Ensemble Modern unter anderem das “Lied von der Sexuellen Hörigkeit”. Dietmar Wiesners Augen leuchten: Diese Vitalität! Dieser Ausdruckswille, in praktisch jedem Wort eine andere Wendung zu finden! Nacho de Paz reagiert auf die Nina-Hagen-Frage etwas reservierter: “Strange”, sagt er, was allerlei bedeuten kann. Vor allem, sagt er dann, solle das bedeuten, dass jeder Schauspieler/Sänger seinen eigenen Ausdruck finden müsse. Die Vorbilder, die man gerade bei der Dreigroschenoper dutzendweise im Ohr und im Kopf habe, müsse man gehört haben, aber vergessen, um zu einer eigenen Wahrhaftigkeit kommen. Das sei Ziel seiner musikalischen Inszenierungsarbeit: Klarheit, Wahrhaftigkeit. Natürlich auch Beherrschung des Materials, aber Schauspieler seien nun mal keine Sänger.
Nina Hagens Interpretation der Mrs Peachum ist für ihn keine Referenzgröße. Ihn hat eher Enzio Pinza geprägt, ein 1892 in Italien geborener Bassist, der seine besten Jahre an der New Yorker Metropolitan Opera verbracht und auch den Peachum gesungen hat: Ein ausdrucksreicher Spieler und Sänger, sagt Nacho de Paz. Aber auch das müsse man vergessen können. Wichtig sei ihm, als Merkmal der Musik in der Inszenierung, Eleganz und Klarheit. Eleganz verbiete es, allzu intensiv und detailliert den Effekten nachzusteigen. Und die Forderung nach Klarheit gebiete es bei etlichen Liedern, in jeder Strophe praktisch eine andere Version spielen – nach den gleichen Noten natürlich. Und immer müsse man genau darauf achten, dass die schauspielerische und die musikalische Arbeit in jedem Augenblick ihre enge Verbindung aufrecht erhalten.
Die Dreigroschenoper sei halt, sagt Dietmar Wiesner, eine hybride Gattung: weder Oper noch Farce, eher beides zugleich und daher etwas Drittes. Etwas fast Einmaliges. Ein formal eigenständiger Beitrag zur Tradition des Musiktheaters, dessen Widersprüchlichkeit man nicht überspielen, sondern betonen müsse. Und die ewigen Wahrheiten darin, sagt Nacho de Paz, sollte man angemessen behandeln, egal, ob sie von Enzio Pinza oder Nina Hagen gesungen werden. Zum Beispiel die, dass erst das Fressen kommt und dann die Moral.